Menschen ohne Bleibe haben ein Recht auf Unterbringung. Das scheint normal, ist es aber in der Wirklichkeit offensichtlich nicht. Deshalb gibt es dazu jetzt ein Rechtsgutachten

Jetzt ist sie wieder da, die kalte Jahreszeit. Und bei vielen Menschen wird in den kommenden Monaten wieder in Erinnerung gerufen werden, dass es Menschen gibt, die auf der Straße leben (müssen). Und wenn es schlimm kommt, dann wird wieder der eine oder andere Mensch erfrieren und für einen kurzen Moment wird es Betroffenheit geben. Zugleich wird man zur Kenntnis nehmen müssen, dass zum einen gerade in den Großstädten Notunterkünfte fehlen, um die Menschen wenigstens in der Nacht versorgen zu können, auf der anderen Seite wird man immer wieder hören oder lesen, dass solche Schlafplätze, wenn sie denn vorhanden sein sollten, nicht in Anspruch genommen werden – mit den dann Betroffenheit erzeugenden Folgen, aber auch der immer wieder mitschwingenden Frage, warum man denn dieses Risiko auf sich genommen hat. Dass nicht wenige Obdachlose Hunde haben, deren Mitnahme oftmals verboten ist, wissen dann nur wenige. Dass manche Obdachlose schlichtweg Angst haben, beklaut oder gar geschlagen zu werden in der Enge der Notunterkünfte, sei hier hier nur als weiterer Aspekt erwähnt.

Wie dem auch sei. Thema dieses Beitrags ist ein neues Rechtsgutachten, das Karl-Heinz Ruder anlässlich der der Bundestagung der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. in Berlin vom 9.-11. November 2015, „Solidarität statt Konkurrenz – entschlossen handeln gegen Wohnungslosigkeit und Armut“, vorgelegt hat. »Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) hat kürzlich einen Anstieg der Zahl der Obdachlosen von derzeit geschätzt 335.000 auf über eine halbe Million im Jahr 2018 prognostiziert. Betroffen sind immer häufiger auch Geflüchtete und Arbeitsuchende aus ärmeren EU-Staaten«, so Susan Bonath in ihrem Artikel Polizei gegenüber Obdachlosen in der Pflicht. »Muss Betroffenen geholfen werden, wenn sie Hilfe suchen? Ja, meint der Rechtsanwalt Karl-Heinz Ruder aus Emmendingen (Baden-Württemberg) in einem aktuellen Gutachten, das er für die BAG W erstellt hat …  Ruder sieht als letzte Instanz, an die sich Betroffene wenden können, die Polizei in der Pflicht.« 

Die Polizei, wird der eine oder andere an dieser Stelle fragen? Ja, genau die, wenn man der Argumentation des Gutachters folgt:

»Werden Wohnungslose von Behördenvertretern und Betreibern von Unterkünften abgewiesen, müsse sie einschreiten. Das ergebe sich aus der gesetzlichen Pflicht der Polizei, »Gefahren für die öffentliche Sicherheit« abzuwehren, erläutert der Anwalt. Durch »unfreiwillige Obdachlosigkeit« würden »wichtige Grund- und Menschenrechte gefährdet«. Dies führe zu einer akuten Gefährdungslage einzelner, die durch nur Einweisung in eine menschenwürdige Unterkunft beseitigt werden könne. Dabei komme es »weder auf die Nationalität noch auf den ausländerrechtlichen Status an«. Der Anspruch auf Zuweisung einer Unterkunft könne selbst durch »Fehlverhalten« nicht »verwirkt« werden.«

Diese Verpflichtung geht nach Auffassung des Gutachters sehr weit:

»Polizisten müssen nach Einschätzung Ruders auch dann handeln, wenn ein Betroffener nicht um Hilfe bitten könne. Träfen Streifenbeamte etwa während einer Kälteperiode auf eine hilflose Person, seien sie verpflichtet, diese auch gegen ihren Willen unterzubringen. Notfalls müsse bis zur Erreichbarkeit zuständiger Dienste eine Arrestzelle herhalten. Hier gehe es um den unmittelbaren Schutz von Leben und Gesundheit.«

Vor diesem Hintergrund lohnt ein genauerer Blick in das Rechtsgutachten, das in der Vollversion als PDF-Datei abgerufen werden kann:

➔ Karl-Heinz Ruder: Grundsätze der polizei- und ordnungsrechtlichen Unterbringung von (unfreiwillig) obdachlosen Menschen unter besonderer Berücksichtigung obdachloser Unionsbürger, Berlin 2015

Die im Gutachten unter Heranziehung der einschlägigen Literatur und Rechtsprechung dargestellten Grundsätze lassen sich wie folgt zusammenfassen:

»1. Nach den Polizei-, Sicherheits- und Ordnungsgesetzen aller Bundesländer ist es die Aufgabe der Polizei, Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Die unfreiwillige Obdachlosigkeit stellt eine Beeinträchtigung des Schutzgutes der öffentlichen Sicherheit dar. Es ist deshalb die Aufgabe der Polizei, Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahr zu ergreifen.

2. Sachlich zuständige Behörden sind nach den jeweiligen Polizei- und Ordnungsgesetzen der Bundesländer die allgemeinen, unteren Gefahrenabwehrbehörden (Polizei, Ordnungs-, Sicherheits- und Verwaltungsbehörden). Das sind alle Gemeinden und Städte, die die Aufgabe der „Obdachlosenpolizei“ als Pflichtaufgabe nach Weisung wahrnehmen. Örtlich zuständig sind die Behörden, in denen sich eine obdachlose Person tatsächlich aufhält und ihre Einweisung in eine Notunterkunft beantragt.

3. Durch den Zustand der (unfreiwilligen) Obdachlosigkeit werden wichtige Individualrechte wie Recht auf Leben, auf Gesundheit, auf körperliche Unversehrtheit u. auf Menschenwürde gefährdet. Diese fundamentalen Grund- und Menschenrechte stehen allen natürlichen Menschen zu. Auch der Aufenthalt von obdachlosen Unionsbürgern und sonstigen Ausländern gefährdet somit die öffentliche Sicherheit.

4. Obdachlos im polizeirechtlichen Sinne ist eine Person, die nicht Tag und Nacht über eine Unterkunft verfügt, die Schutz vor den Unbilden des Wetters bietet, Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lässt und die insgesamt den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft entspricht.

5. Bei der Beurteilung dieser Gefahrenlage kommt es nicht auf die Nationalität oder auf den jeweiligen Aufenthaltsstatus des Störers an. Entscheidend ist vielmehr, durch welche Maßnahmen die Gefahr effektiv und rasch beseitigt werden kann. Hierbei ist es die Aufgabe der Polizei, im Rahmen ihres Ermessens die gefährdeten Individualrechte zu schützen.

6. Beantragt eine obdachlose Person bei der Polizei ihre Unterbringung, wird in der Regel das polizeiliche Ermessen, einzuschreiten „auf Null reduziert“: Für die Behörde gibt es nur noch eine rechtmäßige Entscheidung: den Betroffenen zum Schutz seiner Rechte in eine Notunterkunft einzuweisen.

7. Der Obdachlose hat gegenüber der Polizei einen Anspruch auf Einschreiten bzw. auf Einweisung in eine Notunterkunft. Dieser Anspruch ist ein sog. subjektives öffentliches Recht, das gegenüber der Gemeinde als Trägerin der Polizeibehörde notfalls vor den Verwaltungsgerichten geltend gemacht werden kann. Dies gilt grundsätzlich auch in den Fällen, in denen die Gemeinde ihre Aufgabe der Unterbringung auf einen Dritten bzw. auf eine Privatperson / Wohlfahrtseinrichtung u. dgl. übertragen hat.

8. Der Einweisungsanspruch steht unter dem Vorbehalt der Selbsthilfe. Kann sich ein Obdachloser aus eigenen Kräften und mit eigenen Mitteln selbst eine Unterkunft besorgen, muss die Polizei nicht tätig werden. Bei obdachlosen Menschen, die mittellos sind, ist in der Regel davon auszugehen, dass sie sich nicht selbst helfen können.

9. Die Polizei kann im Rahmen ihres Ermessens versuchen, einen Antragsteller freiwillig davon zu überzeugen, dass er nicht auf einer ordnungsrechtlichen Einweisung besteht. In diesem Zusammenhang kann sie ihm auch anbieten, bei der Suche nach Alternativen behilflich zu sein. Bei einem Unionsbürger kommt auch die Organisation einer Rückreise und Übernahme der Reisekosten durch die Behörde u. dgl. in Betracht. Die Behörde kann aber die Person nicht zwingen, dieses Angebot anzunehmen oder damit drohen, dass im Falle der Nichtannahme eines Rückreiseangebots der Unterbringungsanspruch verloren geht. Nimmt ein Obdachloser diese Angebote nicht an, muss er untergebracht werden. Dies gilt auch für Unionsbürger.

10. Eine Verwirkung des öffentlich-rechtlichen Unterbringungsanspruches ist aus rechtlichen Gründen ausgeschlossen.

11. Für die Einweisung von unbegleiteten obdachlosen Minderjährigen und von Flüchtlingen, die Asyl begehren, ist die Polizei- und Ordnungsbehörde nicht zuständig.

12. Die Einweisung erfolgt regelmäßig durch eine Einweisungsverfügung, die zur Folge hat, dass ein öffentlich-rechtliches Benutzungsverhältnis besteht. Auch in den Fällen, in denen die Gemeinden Dritte mit der Unterbringung beauftragen, bleibt der öffentlich-rechtliche Anspruch auf Einweisung gegenüber der Gemeinde erhalten.

13. Zweck der Einweisung ist, dem Betroffenen zur Abwendung einer Gefahr für das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit vorübergehend eine behelfsmäßige und menschenwürdige Unterkunft zur Befriedigung der notwendigsten Lebensbedürfnisse anzubieten.

14. Die Einweisung muss den Mindestanforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung entsprechen. Jederzeit muss das sog. zivilisatorische Minimum gewährleistet werden. Dazu gehört neben einer angemessenen Ausstattung der Unterkunft eine ganztägige Unterbringungsmöglichkeit. Eine räumliche Trennung zwischen einer Unterbringung nachts- und tagsüber ist zulässig, wenn die Einrichtungen in zumutbarer Entfernung liegen und der Obdachlose die Möglichkeit hat, seine Habe sicher zu verwahren.«