Der Mindestlohn auf dem Schlachtfeld der gesellschaftspolitischen Debatte. Nein, nicht in Deutschland. Der Blick richtet sich auf die USA. Und auf eine Zahl: 15

100 Tage – und schon wird nach dieser kurzen Zeit überall versucht, eine Bilanz zu ziehen. Über den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland. Man kann es sich einfach machen und darauf abstellen, was in den vergangenen drei Monaten passiert ist auf dem Arbeitsmarkt. Jedenfalls nicht das, was viele Kritiker im Vorfeld vorhergesagt haben. Der Arbeitsmarkt ist nicht zusammen gebrochen und auf den Fluren der Arbeitsagenturen und Jobcenter stapeln sich nicht die Mindestlohnopfer aus dem Niedriglohnsektor. Man kann sogar einen großen Schritt weiter gehen und die Einführung dieser Lohnuntergrenze als „Großtat“ bezeichnen, wie es Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung in einem Video-Interview bereits Anfang März dieses Jahres gemacht hat (vgl. „Der Mindestlohn ist eine Großtat“ vom 03.03.2015). Man könnte natürlich auch den wissenschaftlich korrekten Hinweis geben, dass wir hinterher immer schlauer sein werden und dass man schlichtweg noch einige Zeit warten und beobachten muss, ob und wo es möglicherweise negative Arbeitsmarkteffekte geben wird. Aber auch, ob und wo und wie es möglicherweise positive ökonomische Auswirkungen zu beobachten gilt, ein Aspekt, der in der aktuellen Diskussion viel zu kurz kommt.

Das soll hier gar nicht Thema sein. Denn auch an anderer Stelle und in anderen Ländern wird intensiv und naturgemäß höchst kontrovers über den Mindestlohn diskutiert – und teilweise auch an ihm herumgefummelt. Hin und wieder auch aus niederen politischen Beweggründen, wenn auch zum (potenziellen) Vorteil für die Betroffenen. Dazu gehört aktuell beispielsweise Großbritannien und dann kommt so eine Meldung dabei heraus: Britische Regierung kündigt kurz vor Wahlen Mindestlohn-Erhöhung an. Wie immer lohnt es sich, genauer hinzuschauen: »Zwei Monate vor der Parlamentswahl in Großbritannien hat die konservative Regierung eine Anhebung des Mindestlohns um drei Prozent angekündigt. Allerdings soll die Anhebung erst im Oktober, und damit nach der Wahl Anfang Mai erfolgen … Demnach soll der Mindestlohn auf 6,70 Pfund (9,40 Euro) von derzeit 6,50 Pfund steigen. Rund 1,4 Millionen Arbeitnehmer dürften davon profitieren. Es ist die größte reale Anhebung des Mindestlohns seit sieben Jahren.« Man muss wissen: In Großbritannien betrifft der Mindestlohn etwa fünf Prozent der Erwerbstätigen, was erst einmal nicht viele sind, doch beeinflusst seine Entwicklung die Lohnverhandlungen für etwa jeden dritten Beschäftigten.

Aber jetzt soll der Blick in die USA gerichtet werden, denn da kann man interessante Entwicklungen zum Thema Mindestlohn beobachten, die durchaus relevant sind für die deutsche Diskussion.

Viele werden wissen oder in Erinnerung haben: Selbst in den USA gibt es einen Mindestlohn, worauf im Vorfeld der Einführung eines solchen in Deutschland (also in der Form eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns für – nun ja, fast – alle, denn in vielen Branchen gibt es schon seit längerem branchenspezifische Mindestlohnregelungen) die Befürworter gerne hingewiesen haben. Allerdings kommt der nicht wirklich üppig rüber, denn der USA-weite Mindestlohn stagniert schon seit Jahren bei 7,25 Dollar (derzeit etwa 6,83 Euro pro Stunde).

Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit, denn die USA sind eben keineswegs ein einheitlicher Staat, wie viele zuweilen annehmen, sondern durchaus föderalistisch aufgebaut mit vielen Unterschieden zwischen den einzelnen Bundesstaaten. Präsident Barack Obama würde den bundesweiten Mindestlohn gerne erhöhen (auf 10,10 Dollar), doch die Republikaner blockieren seine Initiative im Kongress. Anfang 2015 haben 21 Bundesstaaten der USA den Mindestlohn erhöht. Die Mehrheit der amerikanischen Arbeiter hat nun einen landesrechtlichen Anspruch auf ein Gehalt, das über dem USA-weiten Mindestlohn liegt. Es gibt also in den USA nicht „den“ Mindestlohn, sondern einen bundesweit geltenden Mindest-Mindestlohn und zahlreiche davon nach oben abweichenden Bundesstaaten-Mindestlöhne. Und die kontroverse Debatte über die Auswirkungen des Mindestlöhne unterscheiden sich nicht von der, die wir aus Deutschland kennen, berichtet beispielsweise Kathrin Werner in ihrem Artikel Zum Leben zu wenig. Auch in den USA wird immer wieder auf die angeblich negativen Arbeitsmarkteffekte des Mindestlohns allgemein und vor allem seiner Erhöhung hinweisen. Allerdings:

»Das Center for Economic and Policy Research hat … mit offiziellen Zahlen belegt, dass die Zahl der Arbeitsplätze in den 13 Bundesstaaten, die Anfang 2013 die Mindestlöhne hochgesetzt haben, schneller wuchs als in den Bundesstaaten mit stagnierenden Regeln.«

Arbeitnehmer haben es in den USA – das kann man in aller Deutlichkeit so sagen – sicherlich weitaus schwieriger hinsichtlich der Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten als in Deutschland. Aber jetzt beginnt eine interessante Bewegung Fahrt aufzunehmen – die Organisation „Fight for $15“.

»In der Organisation „Fight for $15“ haben sich Minilöhner aus verschiedenen Branchen zusammengetan, neben den Burgerbratern und Kassierern sind Verkäufer, Kindererzieher, Pflege- und Putzdienste und Flughafen-Mitarbeiter dabei. Und jetzt auch die Bauarbeiter. Zum Vergleich: Der gerade in Deutschland eingeführte und umstrittene gesetzliche Mindestlohn liegt bei lediglich 8,50 Euro bei Stunde.«

Und es geht nicht nur um 15 Dollar Mindestlohn pro Stunde, sondern auch um den 15. April dieses Jahres: »Für den 15. April hat „Fight for $15“ nun landesweit zu Streiks und Demonstrationen aufgerufen. „Es ist Zeit für McStreik“, schreiben sie bei Facebook.«
Die Organisatoren erwarten 60 000 Teilnehmer in 200 Städten, zum Teil auf dem Campus von Universitäten – das hat eine besondere Bedeutung, denn:

»Zum einen haben sich außerordentliche Professoren ohne Festanstellung auf Lebenszeit der Bewegung angeschlossen. Diese sogenannten Adjuncts bekommen im Schnitt 2700 Dollar pro Kurs und müssen sich um Sozialversicherung, Rente und Krankenkasse selbst kümmern. Obwohl sie mindestens einen Doktortitel haben, reicht ihr Gehalt oft nicht zum Leben. Sie kämpfen nun gemeinsam mit Menschen ohne Schulabschluss. Zum anderen haben große Protestwellen in den USA, zum Beispiel gegen den Vietnamkrieg, oft in Universitäten begonnen oder Schwung aufgenommen.«

Die Forderung nach 15 Dollar Mindestlohn erschien bis vor kurzem – jedenfalls in den USA, die Interessierten schauen sich gerne einmal das Mindestlohnniveau in Australien an – absurd hoch und nur eine theoretische Forderung. Dem ist nun nicht mehr so und dafür steht der Name einer Stadt: Seattle.

»Seattle hat den Mindestlohn gerade erhöht. Vom 1. April an haben fast 40.000 Menschen in der nordwestlichen Stadt eine Gehaltserhöhung bekommen, auf mindestens elf Dollar pro Stunde, kleine Unternehmen dürfen zehn Dollar zahlen. Das Stadtparlament hat ein Gesetz verabschiedet, das einen weiteren Anstieg vorschreibt. Von 2017 an gilt ein Mindestlohn von 15 Dollar.«

Nikolaus Piper hat denn auch seinen Artikel über de Vorgänge in dieser Stadt überschrieben mit Sozialismus in Seattle. Zur Einordnung muss man wissen: Seattle ist die amerikanische Hauptstadt der alternativen, grünen Bewegung. Und: »Eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung in Seattle spielte die Ökonomin Kshama Sawant. Sie gehört einer trotzkistischen Splittergruppe an, die unter anderem die Verstaatlichung großer US-Firmen und eine sozialistische Planwirtschaft fordert … Die 41-jährige Ökonomin setzte voriges Jahr als Stadträtin in der Volksvertretung Seattles den 15-Dollar-Beschluss durch. Und dies, obwohl sie aus einer krassen Außenseiter-Position antrat.« Sie ist zugleich auch ein interessantes Beispiel für den Schmelztiegel USA:

»Kshama Sawant wurde im indischen Puna in eine Mittelklasse-Familie geboren. Ihr Vater war Ingenieur, ihre Mutter Lehrerin. Sie studierte Informatik an der Universität Mumbai, heiratete einen Microsoft-Ingenieur und zog mit ihm nach Seattle; 2010 wurde sie Bürgerin der Vereinigten Staaten. Hier absolvierte sie auch ein zweites Studium in Ökonomie und hat heute einen Job als Teilzeit-Professorin an der Universität Seattle.«

Wie dem auch sei und unabhängig von der medialen Suche nach Aushängeschildern und Symbolfiguren – in den USA ist einiges los beim Thema Mindestlohn und die genannten Beträge verdeutlichen vor allem eines: Wenn wir bei 8,50 Euro Mindestlohn pro Stunde in Deutschland den Untergang des Abendlandes diskutieren, sollten wir einen Moment innehalten und mal über den Tellerrand schauen. Man ist nicht alleine, wenn es  um die vielen vorgetragenen Zweifel und Gegenargumente geht, aber eben auch nicht, wenn man die Position vertritt, dass 8,50 Euro wenn überhaupt, dann nur der starting point sein können für das Mindeste.