Kinder unter Hartz IV – kurz vor Weihnachten ein Aufflackern in der Berichterstattung. So viele kleine Schicksale in einer großen Zahl

Nein, hier geht es nicht um eine Auseinandersetzung mit den vielen Artikeln und Sendungen, die in diesen Tagen rund um das Thema „Hartz IV“ erschienen sind. Es geht hier um eine Zahl.
1,64 Millionen, so lautet diese Zahl.

Man kann diese Zahl auch anders übersetzen: Jedes sechste Kind in Deutschland ist von Hartz-IV-Leistungen abhängig. Das bewegt den einen oder die andere gerade in den Tagen vor dem Weihnachtsfest, in denen viele Erwachsene an leuchtende Kinderaugen denken oder sich diese wünschen. Eine Projektionsfläche für eigene Kindheitserinnerungen und darüber hinaus für den Versuch, aus der Routine und oftmals auch Tristesse des Alltags ausbrechen zu können. Das ist legitim, vielleicht sogar sehr wichtig. Und in diesem Kontext wird es dann auch absolut verständlich, warum diese Tage auch die wichtigsten sind für diejenigen, die Spenden sammeln. Ob für „Ärzte ohne Grenzen“, für rumänische Straßenhunde oder für Wikepedia. Denn in diesen Tagen gibt man gerne und auch mehr als sonst. Und man ist aufnahmefähig für Berichte, in denen darauf hingewiesen wird, dass es viele Kinder auch in unserem Land gibt, denen nicht vergönnt sein wird, unter einem reichlich bestückten Weihnachtsbaum Geschenke auspacken zu können. Damit sind wir wieder bei den 1,64 Millionen Kindern unter 15 Jahre, die sich derzeit im Hartz IV-Bezug befinden oder besser: unter Hartz IV, denn ihre Situation ist durch die Lage ihrer Eltern bedingt. Kinderarmut keine eigenständige Armutsform, sondern immer eine abgeleitet Armut ihrer Eltern.

Deshalb müssen alle Überlegungen, wie man Kinderarmut bekämpfen kann, am System Familie und insbesondere an den Erwachsenen ansetzen. Aber zuvor ein notwendiger Blick auf die Zahlen, hinter denen sich – das kann nicht oft genug betont werden – lauter Einzelschicksale verbergen:
Aktuell sind mehr als 1,64 Millionen Kinder unter 15 Jahre auf Hartz IV angewiesen oder leben in einer Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft. Das sind 15,5% aller Unter-15-Jährigen. Dabei gibt es eine erhebliche Streuung schon auf der Ebene der Bundesländer, denn in Berlin ist derzeit jedes dritte Kind betroffen, während es in Bayern nur 7,2 Prozent sind. In Ostdeutschland lag die Quote mit 23,5 Prozent wesentlich höher als im Westen (13,7 Prozent).


Schon ein erster Blick auf die Hilfequoten verdeutlicht, dass es hinsichtlich der Kinder eine „Sonderentwicklung“ in den vergangenen Jahren gegeben hat. Denn während der Anteil der auf Hartz IV-Leistungen angewiesenen Menschen seit 2010 leicht rückläufig ist und auch der Anteil der erwerbsfähigen Menschen, die im SGB II-Bezug sind, abgenommen hat, sieht seit 2012 die Entwicklung bei den Kindern anders aus, hier steigen die Anteilswerte wieder. Darauf wird übrigens nicht erst jetzt hingewiesen, vgl. dazu beispielsweise den Blog-Beitrag Die Kinder und die Armut ihrer Eltern. Natürlich auch Hartz IV, aber nicht nur. Sowie die Frage: Was tun und bei wem? vom 11.11.2014). Dann stellt sich natürlich die Frage, wie es zu dieser vom generellen Trend abweichenden Entwicklung kommen kann, denn man muss sehen, dass die vergangenen Jahre arbeitsmarklich gesehen eine gute Phase waren, was sich eben auch in einem – wenn auch viele zu geringen – Rückgang der allgemeinen Zahl an Hartz IV-Empfängern niedergeschlagen hat. An dieser Stelle sei erinnert an die Aussage, dass es Kinderarmut als solche nicht gibt, da es sich immer um eine von der Armut der Eltern abgeleitete Armut handelt. Insofern macht es Sinn, einmal genauer hinzuschauen, ob und wen ja welche Haushalte denn besonders betroffen sind. Hier zeigt sich, dass es vor allem zwei – allerdings in sich durchaus sehr heterogene – Gruppen sind, in denen die von Hartz IV-Leistungen abhängigen Kinder leben: Alleinerziehende und Langzeitarbeitslose.
Jeder 10. Haushalt ist von Hartz IV-Leistungen abhängig, bei den Alleinerziehenden sind es 40% der Haushalte. Die Hälfte der in Armut lebenden Kinder, lebt bei Alleinerziehenden und bezieht Hartz VI. Insgesamt sind 39 Prozent der Familien mit nur einem Elternteil auf Hartz IV angewiesen. Wie keine andere gesellschaftliche Gruppe sind sie von Armut betroffen.

Dabei gehen 70 Prozent der Single-Eltern einer Arbeit nach. Doch nicht immer gelingt es, die Rolle der Alleinerziehenden und der Familienernährerin unter einen Hut zu bringen: Jede fünfte berufstätige Alleinerziehende muss aufstocken, also zusätzlich Leistungen vom Jobcenter beziehen, um den Lebensunterhalt zu sichern. Erschwerend kommt hinzu, dass nur die Hälfte aller anspruchsberechtigten Kinder den Unterhalt vom anderen Elternteil in voller Höhe ausgezahlt bekommt. Tatsächlich arbeiten 45 Prozent der Alleinerziehenden in Vollzeit-Jobs, dagegen nur 30 Prozent der Frauen, die in einer Paarfamilie leben.

Zu der oftmals schwierigen Situation Alleinerziehender sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Studien erschienen, die belegen, welchen Hemmnissen die Betroffenen ausgesetzt sind. Die Bertelsmann-Stiftung schreibt dazu anlässlich der Veröffentlichung einer neuen Studie:

»Das Problem vieler Alleinerziehenden ist, dass sie nicht nur den Alltag mit Arbeit, Haushalt und Kindern allein organisieren müssen, sondern auch noch von der Politik via Steuer- und Unterhaltsrecht zahlreiche Knüppel zwischen die Beine geworfen bekommen. Denn der Staat orientiert sich zu stark  an der Zwei-Eltern-Familie. Und das stellt Alleinerziehende mitunter vor gewaltige finanzielle Probleme … Der Gesetzgeber geht seit der Unterhaltsrechtsreform aus dem Jahr 2008 davon aus, dass jede Alleinerziehende problemlos Vollzeit arbeiten kann, sobald ihr Kind drei Jahre alt ist und eine Kinderbetreuung zur Verfügung steht. Entsprechend muss der Expartner ab diesem Zeitpunkt keinen Betreuungsunterhalt mehr zahlen.« (Wie die Politik Alleinerziehende unter Druck setzt).

Die angesprochene Studie versucht eine Bestandsaufnahme der Situation der Alleinerziehende sowie eine Diskussion von möglichen Lösungsansätzen:

Anne Lenze: Alleinerziehende unter Druck. Rechtliche Rahmenbedingungen, finanzielle Lage und Reformbedarf. Gütersloh 2014

Als ein Beispiel für eine gelungene, weil sensible und zugleich differenzierte Bestandsaufnahme sei an dieser Stelle auf einen Beitrag hingewiesen, der vom Deutschlandradio Kultur ausgestrahlt wurde und den man als Audio-Datei abrufen kann:

Alltagskampf bis zur Erschöpfung (15.12.2014)
90 Prozent aller Alleinerziehenden sind weiblich, viele von ihnen auf Hartz IV angewiesen. Im Zuge der Agenda 2010 hat sich für viele von ihnen die Situation verschärft – gefordert wird viel, vom Fördern ist nicht viel übrig geblieben. Doch das Jobcenter ist nicht das einzige, gegen das sie Tag für Tag ankämpfen müssen.

In diesem Beitrag wird an vielen Stellen herausgearbeitet, mit welchen strukturellen Problemen die Betroffenen zu kämpfen haben, die es aber eben auch verunmöglichen, durch eine punktuelle Intervention schnell deutlich positive Ergebnisse beispielsweise hinsichtlich einer besseren Arbeitsmarktintegration erreichen zu können. 

Und mit strukturellen Problemen in mehrfacher Hinsicht haben es auch die Langzeitarbeitslosen zu tun, wenn sie den eine Arbeit suchen. Und es sind wirklich sehr viele Langzeitarbeitslose, die nicht nur Arbeitssuchenden, sondern bereit sind, jede Form der Beschäftigung anzunehmen, wenn sie aus ihren Zustand dadurch entfliehen können. Aber oftmals prallen sie an den Anforderungen bzw. Erwartungen bzw. Vorurteilen der heutigen Arbeitswelt ab. Anfang November 2014 wurden auf dieser Seite die Ergebnisse einer neuen Studie der Hochschule Koblenz vorgestellt, die sich mit einer Quantifizierung des so genannten „harten“ Kerns der Langzeitarbeitslosigkeit beschäftigt hat (vgl. dazu den Beitrag Neue Zahlen zur Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit im Grundsicherungssystem. Und in der Arbeitsmarktpolitik wird das „Programmhopping“ für einige wenige fortgeschrieben). In Anlehnung an die sehr restriktive Bestimmung der Zielgruppe für eine öffentlich geförderte Beschäftigung durch den Gesetzgeber definieren die Wissenschaftler Personen als arbeitsmarktfern, wenn sie in den letzten drei Jahren nicht beschäftigt waren und mindestens vier „Vermittlungshemmnisse“ aufweisen. Diese „Vermittlungshemmnisse“ führen dazu, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die davon betroffenen in absehbarer Zeit in irgendeine Erwerbsarbeit integriert werden können, gegen Null geht. Und je länger für diese Menschen nichts passiert, was ihre Passivierung in der Langzeitarbeitslosigkeit aufzubrechen in der Lage ist, umso schwieriger wird es werden, sie jemals in die Nähe einer solchen Erwerbsarbeit zu bringen. Erschreckend ist die quantitative Größenordnung, um die es bei diesem „harten“ Kern der Langzeitarbeitslosigkeit geht und auch die beobachtbare Zunahme dieser Personengruppe – wohlgemerkt, in einer Phase, die allgemein durch gute arbeitsmarktliche Rahmenbedingung geprägt war – ist äußerst bedenklich:

»Mehr als 480.000 Menschen in Deutschland haben nahezu keine Chance am Arbeitsmarkt. Das ist das Ergebnis einer Studie des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik (IBUS) der Hochschule Koblenz. Trotz guter Arbeitsmarktlage ist ihre Zahl im Vergleich zum Vorjahr noch gestiegen. In den Familien dieser Menschen leben über 340.000 Kinder unter 15 Jahren – ebenfalls deutlich mehr als noch im Vorjahr … Mit 435.000 Menschen gab es 2011 noch zehn Prozent weniger Betroffene. Und auch die Zahl der Kinder ist gestiegen. 2011 lebten 305.000 unter 15-Jährige in den Haushalten der Arbeitsmarktfernen, 11,5 Prozent weniger als 2012.«

Man kann es drehen und wenden wie man will – wenn die Situation der Eltern, die sich in der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit befinden, nicht aufgebrochen wird, dann werden die Kinder weiter leiden müssen. Deshalb ist es von zentraler Bedeutung, dass man die Verhältnisse, unter denen diese Kinder aufwachsen (müssen), auf eine andere Schiene setzt. Das bedeutet konkret, dass wir wenigstens bei den Personen, bei denen wir relativ gesichert wissen, dass sie mittel- bis langfristig so gut wie keine realistische Chance auf eine „halbwegs normale“ Erwerbsarbeit haben werden, mithilfe von sinnvollen öffentlich geförderten Beschäftigungsangeboten darauf hinwirken, dass diese Menschen, die eben auch Eltern sind, einer Erwerbsarbeit nachgehen können.

Aber so, wie man derzeit die Alleinerziehenden gleichsam „im Regen stehen lässt“ bzw. teilweise ihre Situation sogar noch zu verschlechtern gedenkt, so bewegt sich hinsichtlich der von allen halbwegs ehrlich an die Sache herangehenden Experten dringend angemahnten Aktivitäten zu Gunsten einer besseren Integration von Langzeitarbeitslosen außer der Inaussichtstellung nur als kosmetisch zu bezeichnende Pseudo-Programme auf der politischen Bühne nichts. Das wird sich nicht nur bei den eigentlich Betroffenen bitter rächen, sondern auch mit Blick auf die Kinder. Die sind am meisten ausgeliefert und werden gleichsam mit in Haftung genommen für das Tätigkeits-Versagen der Politik. Dann aber braucht man sich auch nicht zu wundern, wenn der Umfang der Kinderarmut in unserem Land weiter anwachsen wird. Frohe Weihnachten sehen anders aus.