Einen Tod muss man sterben – oder aber eine Typologie guter versus schlechter Betriebspraktika entwickeln, normieren und kontrollieren. Beides ist unangenehm

Der Mindestlohn, der gesetzliche und flächendeckende mit einigen Ausnahmen, ist im Bundestag gelandet und kommt auch demnächst in das Gesetzblatt. Und in den vor uns liegenden Wochen werden wir mit immer mehr Geschichten über mögliche Auswirkungen in ganz vielen Einzelbereichen konfrontiert werden, die erwartbar alle für sich nachvollziehbar sind bzw. sein werden und die viel Potenzial haben, sich aufzuregen über (vermeintlich) problematische Konsequenzen des Mindestlohns. Das war und wird so sein bei Taxifahrern, (osteuropäischen) Erntehelfern und und und.

Dazu gehört auch die folgende Botschaft: „Mindestlohn bedroht Betriebspraktika„: »Die Bundesregierung feiert den Mindestlohn – doch für längere, freiwillige Betriebspraktika könnte er das Aus bedeuten. Denn auch Praktikanten, die länger als sechs Wochen im Unternehmen sind, müssen künftig im Regelfall 8,50 Euro pro Stunde erhalten.« Lediglich Schul- und Pflichtpraktika sind ausgenommen, ab 2015 gilt auch für freiwillige Betriebspraktika, die länger als sechs Wochen dauern, eine gesetzliche Lohnuntergrenze von 8,50 Euro. Einerseits schlussfolgert Yasmin El-Sharif: »Die Generation Praktikum ist Geschichte.« Andererseits »bedroht die Neuregelung längere, freiwillige Praktika, wie sie zum Beispiel viele Studierende in den Semesterferien absolvieren.«

In dem Artikel wird Anke Hassel, Professorin für Public Policy an der privaten Hochschule Hertie School of Governance, zitiert: „Es gibt Unternehmen, die Praktika nur anbieten, weil sie nichts oder nur wenig kosten. Wir müssen damit rechnen, dass dort Plätze gestrichen werden.“ Und der ehemalige FDP-Bundestagsabgeordnete Johannes Vogel behauptet: „Das Gesetz bedeutet das Aus der meisten sinnvollen Studentenpraktika“. Dass die Wirtschaftsverbände gegen eine Einschränkung kostenloser Praktika sind, das kann man sich denken. Aber selbst ein Wohlfahrtsverband wie die Caritas hat sich im Rahmen ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf kritisch zu Wort gemeldet:

»Kritisiert wird … die Regelung zu Praktika. Die im Referentenentwurf vorgeschlagenen Ausnahmen sind sinnvoll, gehen aber nicht weit genug. Ein Mindestlohn für Praktikanten kann dazu führen, dass Praktikumsplätze in bestimmten Bereichen wie z.B. Kunst und Kultur unter diesen Bedingungen nicht mehr angeboten werden. Der Deutsche Caritasverband schlägt deshalb vor, Praktika in den ersten drei Monaten vom Mindestlohn auszunehmen, da in dieser Phase davon ausgegangen werden kann, dass in dieser Zeit das Lernen und das „Schnuppern“ in ein Berufsfeld im Vordergrund steht. Für die Unternehmen, die Praktikumsplätze anbieten, entstehen in dieser Zeit Kosten, die nicht durch entsprechende Entlastungen durch den Einsatz von Praktikanten gedeckt sind.«

Wenn man solche Stimmen Revue passieren lässt, dann drängt sich der Eindruck auf, dass die vielen zarten Pflänzchen des intensiven Lernens im realen Leben der Arbeit mit dem neuen Mindestlohn erstickt werden. Wird die Welt jetzt weniger bunt sein?

Zuerst einmal muss eine Annäherung an die Größenordnung versucht werden, um die es geht, wenn man von Praktika spricht. Die Datenlage ist dürftig. Der Artikel zitiert das IAB mit der Zahl von etwa 600.000 Praktika, die jährlich angeboten werden. Im Jahr 2011 wurde eine – nicht repräsentative – Studie veröffentlicht (Boris Schmidt, Heidemarie Hecht: Generation Praktikum 2011. Praktika nach Studienabschluss: Zwischen Fairness und Ausbeutung, Berlin 2011), die der Frage nachgegangen ist, wie es mit Praktika nach dem Studienabschluss von Hochschulabsolventen aussieht. Zu einigen Ergebnissen der Studie, über die damals in einer Zusammenfassung berichtet wurde:

»Wer nach dem Abschluss als Praktikant arbeitet, tut das nach den Ergebnissen der Befragung im Durchschnitt über knapp fünf Monate. 55 Prozent der Praktika dauern bis zu drei Monate, weitere 32 Prozent drei bis sechs Monate. Immerhin neun Prozent der untersuchten Praktika dauern länger als neun Monate … 22 Prozent der befragten Praktikanten mit Abschluss erhielten nach ihrem Praktikum ein Angebot, in eine unbefristete oder befristete Tätigkeit übernommen zu werden – mehr als doppelt so viele hatten sich das bei Aufnahme des Praktikums erhofft.«

Und zur Bezahlung wurde berichtet:

»Rund 40 Prozent dieser Praktika sind nach der Studie unbezahlt. Bei den bezahlten betrug der durchschnittliche Bruttolohn lediglich 3,77 Euro pro Stunde oder rund 550 Euro pro Monat.«

Und ein letzter Punkt, der zugleich die Ambivalenz dessen anleuchtet, was unter dem Dach „Praktika“ subsumiert werden muss:

»68 Prozent der befragten Ex-Praktikanten erlebten die Praktika nach dem Abschluss als prekäre Beschäftigung, 56 Prozent bezeichnen sie gar als „moderne Form der Ausbeutung“. Doch auf der anderen Seite sind auch positive Einschätzungen verbreitet: 61 Prozent der befragten Ex-Praktikanten sprechen von einer „guten Möglichkeit, um den Berufseinstieg zu schaffen“. 80 Prozent heben „die Möglichkeit, zusätzliche Qualifikationen zu erwerben“ hervor.«

Sollte die vorgesehene Regelung die Praktika im Mindestlohngesetz betreffend Realität werden und dann künftig die 8,50 Euro pro Stunde gelten, dann dürfte ein Praktikant je nach Wochenstunden bis zu 1.400 Euro im Monat kosten. Da ist es absehbar, dass viele Praktika nicht mehr angeboten werden, gerade im sozialen und künstlerischen Bereich, aber natürlich auch von denen Unternehmen nicht mehr, die aus der Beschäftigung von Praktikanten ein Geschäftsmodell gemacht haben, man denke hier beispielsweise nur an nicht kleine Teile der Werbeszene.

Apropos „Geschäftsmodell“: Man darf und muss an dieser Stelle gerade im Kontext der Mindestlohndebatte auf die an anderer Stelle immer wieder gerne herausgestellte „Kreativwirtschaft“ verweisen. Exemplarisch dazu der im November des vergangenen Jahres veröffentlichte Beitrag „Mindestlohn killt Kreativität“ von Moritz Malsch, der 2006 zusammen mit Tom Bresemann in Kreuzberg das freie Literaturhaus Lettrétage gegründet hat. Er ruft ganz bewusst bei der Frage der Praktika und den möglichen Auswirkungen einer Mindestlohnregelung die Kulturbranche als Teilbereich der „Kreativwirtschaft“ auf, »eine Branche, die bekanntlich besonders rücksichtslos mit ihren Praktikanten umspringt: Ganze Erwerbsbiografien setzen sich hier aus prekären Arbeitsverhältnissen zusammen, wobei sich Erwerb oft auf den Erwerb von Ruhm und Ehre, guten Kontakten und gelegentlichen Förderhäppchen beschränkt.« Und er konfrontiert uns mit einer holzschnittartigen, aber durchaus plausiblen Typisierung:

»Grob vereinfacht besteht die Kulturlandschaft aus zwei Teilen: den staatlich geförderten Institutionen (ein paar normal bezahlte Angestellte und viele unbezahlte Praktikanten) sowie der freien Szene (viele unterirdisch bezahlte Selbstständige und viele unbezahlte Praktikanten). Beiden Gruppen gemeinsam ist, dass sie wohl auch in Zukunft ihre Praktikanten nicht bezahlen können – es sei denn, der Staat gibt Geld … In jedem Fall würde der Zugang zu Praktika im Kulturbereich so rationiert und gesteuert: Ein Praktikum wäre dann eine staatliche Wohltat.«

Wobei gerade für die vielen freien Träger kaum von einer staatlichen Subventionierung von mindestentlohnten Praktikantenstellen auszugehen ist – das bekommt der Staat bislang selbst in seinen eigenen Einrichtungen kaum hin.

Aber Malsch bietet in seiner Einrichtung selbst unbezahlte Praktikantenstellen an und kann anscheinend aus zahlreichen Bewerbungen auswählen. Das möchte er nicht missen und verklärt die Lage, in dem er a) den Tatbestand der vielen Bewerbungen auf unbezahlte Stellen als „freie Entscheidung“ der Betroffenen deutet (sie hätten ja auch was anderes machen können) und b) das dann zusätzlich relativiert mit dem mittelschichtigen Hintergrund: »Das Schicksal ist selbstgewählt, und oft können die Akademikereltern nach vielen Jahren Gymnasial- und Studienzeit auch noch zwei Monate Berlinaufenthalt ohne Probleme finanzieren.«

Ziehen wir eine vorläufige Bilanz: Die derzeit vorgesehene Regelung wird dazu führen, dass sich Praktikantenarbeit erheblich verteuert – und zwar in „guten“ wie in „schlechten“ Einrichtungen. Aber was ist hier „gut“ und was „schlecht“?

Eine sehr aktuelles Beispiel für die wirklich miesen Ausbeutungsverhältnisse wurde diese Tage bekannt: »Mit der Hoffnung auf eine Lehrstelle machte eine 19-Jährige ein unbezahltes Schnupperpraktikum im Rewe-Supermarkt. Und noch eines. Und noch eines. Nach Monaten des kostenlosen Jobbens verklagte sie ihren Arbeitgeber auf den entgangenen Lohn. Und bekam nun vor dem Arbeitsgericht Bochum 17.281,50 Euro zugesproche«, so Helene Endres in ihrem Artikel „Rewe-Markt muss Praktikantin 17.000 Euro nachzahlen„. Ein krasser Fall (und das Unternehmen Rewe hat zwischenzeitlich Konsequenzen gezogen: „Rewe trennt sich von Ausbeuter-Chef„), aber man könnte über diesen Einzelfall hinaus viele Stunden berichten über die Erfahrungen anderer Praktikanten mit ihrer Instrumentalisierung in der betrieblichen Wertschöpfungskette.

Das ist die eine Seite der Medaille. Viele werden mit Blick auf diese eine Seite schlussfolgern, dass ein Mindestlohn nach sechs Wochen Praktikum richtig und sinnvoll ist, um diesen Geschäftsmodellen das Fundament zu nehmen, denn hier wirkt der Mindestlohn wie ein Prohibitivpreis mit der Folge, dass die schwarzen Schafe unter den Arbeitgebern das Interesse verlieren werden an diesem Weg der billigen Arbeitskraftbeschaffung.

Aber wie immer hat auch diese Medaille eine zweite Seite, die man auch nicht negieren kann und darf. Der Kollateralschaden der neuen Regelung wird sein, das viele soziale, kulturelle Organisationen und Unternehmen keine Praktika mehr anbieten werden, weil sie die damit verbundenen Kosten gar nicht refinanziert bekommen oder an anderer Stelle herausziehen könnten. In der Konsequenz bedeutet das dann natürlich auch, dass viele junge Leute keinen Zugang mehr finden in diese Einrichtungen und damit möglicherweise einen schwierigeren Start hinlegen werden.

Aber was wäre die Alternative, wenn man diesen erwartbar starken Rückzug auf der Seite des Angebots an Praktika-Stellen vermeiden will? Man müsste „gute“ und „schlechte“ Praktikumsstellen identifizieren, normieren und prüfungsfähig definieren, um sie dann auf dieser Basis auch kontrollieren und Verstöße dagegen verfolgen zu können. Wie soll das gehen? Ein schon mathematisch hoffnungsloses Unterfangen, geschweige denn auch noch rechtssicher.

Einen Tod muss man sterben: Ganz offensichtlich haben wir es mit einem schweren nicht-auflösbaren Dilemma zu tun, denn auf der anderen Seite kann der Mindestlohnbefürworter auch nicht auf die Deckelung der lohnfreien Praktika und die Einbeziehung darüber hinausgehender Praktikumszeiten in die Gültigkeit des gesetzlichen Mindestlohnes verzichten, würde man doch ansonsten über diesen Weg für einen Teil der Unternehmen die Option einer mindestlohnfreien Beschaffung von billigster Arbeitskraft stabilisieren. Dem gegenüber steht das Argument, dass ein Unternehmen, das dem Praktikanten auch noch nach sechs Wochen zahlreiche Dinge vermitteln will und soll, was mit erheblichen Aufwand verbunden ist bzw. sein kann – und bei vielen Arbeiten wird man nicht in die Nähe einer Produktivität des Praktikanten kommen können, die dem – aus dieser Perspektive hohen – Mindestlohn nahekommt. Also wird man das Angebot verringern oder gar ganz einstellen (müssen).