Selbstausbeuter an der Massagebank, Kritik am Akademisierungswahn rechtzeitig zum Beginn des Sommersemesters, Profi-Fußballer vor und Kinder in Hartz IV

Es wird ja immer gerne viel über die Herausforderungen durch den demografischen Wandel geschrieben und diskutiert. Nimmt man die plausible Prognose ernst, dass der Anteil, vor allem aber die Zahl der älteren Menschen erheblich ansteigen wird in den kommenden Jahren, dann wird das erhebliche Auswirkungen haben müssen auf die Art und Weise der Gesundheitsversorgung. Immer öfter und immer mehr wird es nicht um die kurzfristige Behandlung, Heilung und Wiederherstellung gehen (können), sondern um die Begleitung chronischer Erkrankungen oder Einschränkungen. Hierbei könnte die Physiotherapie eine ganz zentrale Rolle spielen, kann sie doch beispielsweise Prozesse, die zu einer Pflegebedürftigkeit führen können, zumindest verzögern, aufhalten und die Folgen für die Betroffenen lindern. Dafür bräuchte man nicht nur Physiotherapeuten an sich in ausreichender Zahl, sondern eigentlich müsste man auch das Niveau der Ausbildung wie schon seit langem in anderen Ländern geschehen, anheben. Soweit die Theorie. 

Aber ein Blick in die Praxis muss dann doch sehr ernüchtern. Tilmann Steffen trägt zu diesem Befund bei mit seinem lesenswerten Beitrag Selbstausbeuter an der Massagebank. In Deutschland, so Steffen, gebe es mehr als 36.000 Praxen niedergelassener Physiotherapeuten – „… in manchen Stadtvierteln gibt es mehr Physio-Praxen als Bäcker, Apotheken oder Drogeriemärkte.“ Und der Bedarf ist offensichtlich, das Geschäft boomt. Also alles gut? Nicht wirklich, wenn man sich beispielsweise die Ausbildungssituation anschaut, handelt es sich doch bei der Physiotherapie um eine fachschulische Ausbildung (von den wenigen ersten Anläufen einer akademisierten Ausbildung abgesehen), bei der man keine Azubi-Vergütung bekommt, sondern die man selbst bezahlen muss: „Obwohl die Fachschüler bis zu 350 Euro im Monat zahlen, erwerben sie den Großteil ihres Könnens erst nach ihrer Berufsausbildung – ebenfalls auf eigene Kosten, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Neben vielen Wochenendkursen für 250 bis 300 Euro sind Manuelle Therapie und Lymphdränage am häufigsten nachgefragt – beides sind unverzichtbare Fertigkeiten für alle, die einen Job wollen.

Svenja Brackmann, angestellte Physiotherapeutin in Berlin, schob nach der Physio-Schule eine Zwei-Jahres-Fortbildung in Manueller Therapie nach – für 3.000 Euro … manche Physiotherapeutin hat im Jahr nur elf Nettogehälter zur Verfügung, weil sie das zwölfte an Fortbilder überweist.“ Mit einer gehörigen Portion Selbstironie wird beispielsweise das Fortbildungs-Forum auf physio.de beschrieben mit: „Erfahrungen, Meinungen und Fragen rund um die Lieblingsbeschäftigung der Therapeuten.“ Dabei ist das ökonomisch gesehen mehr als fragwürdig: „Für eine Manuelle Therapie kann eine Praxis im Bundesschnitt nur 11 Cent pro Minute mehr abrechnen als für eine herkömmliche Krankengymnastik. Die Fortbildung dafür zieht sich aber über drei Jahre hin und kostet bis zu 4.000 Euro. Die bei Schlaganfallpatienten gefragte Bobath-Therapie ist ähnlich teuer, bringt aber sogar noch weniger ein als die traditionelle Krankengymnastik.“ Tilmann Steffen zeigt aber in seinem Artikel auch, wer die Gewinner sind in diesem merkwürdig anmutenden Spiel: „Profiteure sind die Fortbildungsanbieter. Für sie sind die Absolventen ein gewaltiger Markt: In fingerdicken Katalogen offerieren sie Kurse von Atemtherapie bis Sensomotorik. Und stoßen auf reges Interesse: In den Ballungszentren sind die Angebote oft Monate vorher ausgebucht. Denn leitende Physiotherapeuten sind zur Weiterbildung gesetzlich verpflichtet – und die Untergebenen ziehen willig nach. Das stärkt die Nachfrage. Trickreich sichern sich Anbieter ihre Einnahmen, indem sie unter einem Dach Schüler ausbilden und Fortbildungskurse anbieten.“

Die Berufsverbände versuchen einerseits, den selbstausbeuterischen Fortbildungswahn einzudämmen, andererseits arbeiten sie an einer Reform der Ausbildung – mit dem erklärten Ziel einer Akademisierung des Berufsbildes, die bislang nur marginal ausgeprägt ist: „Bisher ist der Anteil der Physiotherapeuten mit Studienabschluss mit etwa 200 pro Jahr verschwindend gering.“ Eine vernünftige Akademisierung hinzubekommen wird in Deutschland schon schwierig genug werden (vgl. hierzu auch den Beitrag Die Wehen studieren) – obgleich man eigentlich nur die wirklich hervorragenden physiotherapeutischen fachhochschulischen Studiengänge in den Niederlanden kopieren müsste. Aber richtig heftig wird es bei einer anderen Systemfrage, die in Nachbarländern schon seit längerem zugunsten der Therapeuten gelöst ist: „In Schottland oder den Niederlanden diagnostizieren Therapeuten seit Langem, in Deutschland ist dies ein Monopol der Mediziner.“ Statt nur Verordnungen auszuführen, wollen die Interessenverbände der Physiotherapeuten, dass sie auch selbst Diagnosen stellen dürfen. Es geht also um den Direktzugang zum Patienten. Doch diese Systemfrage haben die Ärzte bislang abblocken können. Eine typische Umgehungsstrategie besteht darin, dass Physiotherapeuten den Heilpraktikerschein machen – dann können sie direkt behandeln, allerdings nur Privatpatienten.

Während bei den Physiotherapeuten (aber auch in anderen Gesundheitsberufen bis hin zu den Erzieher/innen) mit durchaus plausiblen inhaltlichen Argumenten um eine Teil-Akademisierung gekämpft wird, verfasst Ferdinand Knauß rechtzeitig zum beginnenden Sommersemester ein polarisierendes, lesenswertes Plädoyer scheinbar dagegen mit dem Titel Schluss mit dem Akademisierungswahn. Sein Fazit: „Die Politik treibt die Studentenzahlen in immer neue Höhen. Die Verlierer sind die Berufsbildung und die Universitäten als Orte freier Wissenschaft“.

Aber Knauß geht es gar nicht um eine Argumentation gegen die Teil-Akademisierung der Gesundheitsberufe, seine Argumentation richtet sich gegen die „Tonnen-Ideologie“ in der deutschen Bildungspolitik: „Eine parteienübergreifende Koalition verkauft uns wachsende Studentenzahlen als Erfolg kluger Bildungspolitik und Antwort auf die technologischen und sozialen Anforderungen der künftigen Arbeitswelt.“ Und durchaus berechtigt ist seine Frage: „Aber kann und soll diese Entwicklung so weitergehen? Wenn sie es tut, studieren in fünfzehn Jahren drei von vier jungen Menschen – und in dreißig Jahren alle. Von Bildungspolitikern hört man keine Bedenken. Und keine Debatte darüber, was es bedeutet für die Universitäten, für die Wirtschaft, für die Gesellschaft, wenn mehr als die Hälfte eines Jahrgangs studiert.“ Seiner Meinung nach gibt es zwei Hauptopfer dieser Entwicklung: Zum einen das duale Berufsausbildungssystem, dem immer mehr potenzielle Kandidaten entzogen werden, das aber zugleich und vollkommen richtig das Rückgrat der deutschen Arbeitslandschaft darstellt. Zum anderen aber die Hochschulen selbst, die ihren eigentlichen Kernkompetenzen zunehmend beraubt werden. Knauß spitzt seine kritische Perspektive zu, wenn er formuliert: „Die große Lebenslüge der gegenwärtigen Bildungspolitik ist der Glaube an die unbegrenzte Bildbarkeit des Menschen. Daraus folgt der Wahn, durch die richtige Politik einem immer größeren Teil der Bevölkerung akademische Bildung verschaffen zu können, ohne deren Niveau radikal zu senken.“ Er fühlt sich erinnert an den alten Werber-Kalauer: „Exklusivität für Jedermann!“ Insofern ist seine Schlussfolgerung durchaus plausibel: „Das „Upgrading“ der Abschlüsse ist zum Großteil daher eine Bildungsillusion. Junge Menschen absolvieren heute Business- oder Management-Studiengänge – und machen dann Jobs, für die ihren Vätern ein Realschulabschluss mit kaufmännischer Lehre reichte.“

Nach den Physiotherapeuten und einer allgemeinen Kritik an „zu vielen“ Akademikern beschließen wir den Arbeitsmarkt- und Berufe-Reigen mit dem Blick auf eine Berufsgruppe, deren Spitzenvertreter zumeist für hohe Einschaltquoten im Fernsehen sorgen: Profi-Fußballer. Denn zu dieser Gruppe, beziehungsweise zu deren Arbeitsmarktperspektiven, gibt es eine neue Studie, die vom Institut für Sportmanagement und Sportmedizin (ISS) am RheinAhrCampus Remagen der Hochschule Koblenz erstellt worden ist. Die Rhein-Zeitung hat zu dieser Studie ein Interview mit dem Leiter der Studie, Dirk Mazurkiewicz, geführt und berichtet über die wichtigsten Befunde der Studie: „Es sind Zahlen, die überraschen. Und die den Profifußball in einem neuen, ungewohnten Licht erscheinen lassen. Das Klischee der sorglosen Kicker die in Luxuskarossen zum Training düsen, mag auf die Stars der Szene zutreffen, bildet aber längst nicht das Berufsbild ab … Demnach fehlt dem überwiegenden Teil der Spieler (75 Prozent) nach ihrer Laufbahn eine berufliche Qualifikation, etwa ein Viertel rutscht sogar dauerhaft in die Arbeitslosigkeit ab.“ Zur Größenordnung, um die es bei dieser Personengruppe geht: „Rund 2.500 Akteure bestreiten nach Angaben der Spielergewerkschaft VDV derzeit von der Bundesliga bis in die Regionalligen mit dem Fußball ihren Lebensunterhalt, nur die Stars der Szene haben angesichts von Millionen-Gehältern vorzeitig finanziell ausgesorgt.“

Apropos Perspektiven, wenn die eine berufliche Karriere an die Grenzen gestoßen ist und so nicht mehr fortgesetzt werden kann: Immer mehr Menschen fallen zeitweise oder eben auch dauerhaft aus aufgrund psychischer Erkrankungen. Über ihre Arbeitsmarktperspektiven berichtet Saskia Balke in ihrem Artikel Neuer Job dank Neurose: „… statt für immer arbeitslos zu sein, schaffen es Betroffene, ihre psychische Erkrankung als Vorteil zu begreifen – und schulen um. Ihre Zweitkarriere machen sie dann bei Sozialdiensten oder als Traumatherapeuten.“

Unter dem trocken daherkommenden Titel Höhe des Regelbedarfs nach dem SGB II für ein Ehepaar mit einem zweijährigen Kind nicht verfassungswidrig zu niedrig bemessen veröffentlichte das Bundessozialgericht am 28. März 2013 eine Pressemitteilung zu einer wichtigen Entscheidung im Bereich der Grundsicherung. „Regelbedarf und Bedarfe für Bildung und Teilhabe zusammengenommen decken den grundsicherungsrelevanten Bedarf von Kindern und Jugendlichen“, erklärte das Gericht. Der Gesetzgeber habe bei der Festlegung der Regelbedarfe für Erwachsene und  Kinder nicht gegen die im Grundgesetz geschützte Menschenwürde verstoßen, berichtete Zeit Online. Die Formulierung des Gerichts „Regelbedarf und Bedarfe für Bildung und Teilhabe zusammengenommen decken den grundsicherungsrelevanten Bedarf von Kindern und Jugendlichen“ ist ein herber Rückschlag für alle, die auf der Grundlage des wegweisenden Hartz IV-Urteils des Bundesverfassungsgerichts com 09.02.2010 (vgl. hierzu: Regelleistungen nach SGB II (‚Hartz IV- Gesetz‘) nicht verfassungsgemäß) argumentieren, dass die Regelleistungen für Kinder und Jugendliche immer noch zu niedrig bemessen sind.

Von besonderer Bedeutung sind die Ausführungen der Bundessozialrichter zu den so genannten „Bildungs- und Teilhabeleistungen“, die ja seitens der Politik eingeführt wurden als Reaktion auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts eingeführt wurden. Hier sind die Ausführungen des BSG mehr als ernüchternd:

„Die Leistungsansprüche sollen … lediglich gewährleisten, dass den Betroffenen eine Teilhabe im Rahmen der bestehenden örtlichen Infrastruktur ermöglicht wird. Damit reicht es für die Existenzsicherung aus, wenn die Inanspruchnahme entsprechender Angebote durch die Teilhabeleistungen grundsätzlich sichergestellt werden kann. Unschädlich ist auch, dass der Gesetzgeber das Existenzminimum im Bildungs- und Teilhabebereich durch Sach- oder Dienstleistungen (vor allem Gutscheine) und nicht durch Geldleistungen sichert, denn die Form der Leistungserbringung ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich ihm überlassen. Ebenso wenig ist die Höhe der Teilhabeleistungen von 10 Euro monatlich für Mitgliedsbeiträge in den Bereichen Sport, Spiel, Kultur und Geselligkeit, Unterricht in künstlerischen Fächern (zum Beispiel Musikunterricht) und vergleichbare angeleitete Aktivitäten der kulturellen Bildung sowie die Teilnahme an Freizeiten nach Auffassung des 4. Senats verfassungsrechtlich zu beanstanden“, so das BSG in seiner Pressemitteilung.

Zu diesen grundsätzlichen Ausführungen das „Bildungs- und Teilhabepaket“ betreffend passt dann der folgende Artikel aus dem Berliner „Tagesspiegel“ über die Realität der (Nicht-)Inanspruchnahme: Bedürftige Familien schöpfen Unterstützung nicht aus. Cordula Eubel berichtet: „Zwei Jahre nach dem Start des Bildungs- und Teilhabepakets geben die Kommunen längst nicht die insgesamt 1,3 Milliarden Euro aus, die der Bund zur Verfügung gestellt hat … In Berlin wurden 2012 nach Angaben der Senatsverwaltung für Soziales von den bereitstehenden 76 Millionen Euro gut 28 Millionen Euro ausgegeben, das entspricht etwa 37 Prozent.“