Die belgische Sicht auf Deutschland als Sozialdumper, Warteschlangen vor der Krippe und das Theater als besseres Jobcenter

Diese Schlagzeile eines Artikels in der FAZ wird der Bundesregierung nicht gefallen können: Deutsche betreiben Sozialdumping: Belgiens Regierung erhebt harte Vorwürfe gegen seinen deutschen Nachbarn: Im Niedriglohnsektor würden Arbeiter ausgebeutet. Belgien kündigt Beschwerde bei der EU-Kommission an.

Hendrik Kafsack berichtet in seinem Artikel über die Vorwürfe der belgischen Regierung: „Die deutsche Bundesregierung lasse es zu, dass insbesondere osteuropäische Arbeiter in Niedriglohnsektoren ausgebeutet würden, kritisieren Arbeitsministerin Monica de Coninck und Wirtschaftsminister Johan Vande Lanotte. Weil es keinen allgemeinen Mindestlohn gebe, könnten deutsche Schlachthöfe, Gartenbaubetriebe oder Sägemühlen ihre Dienste so günstig anbieten, dass ihre belgischen Wettbewerber nicht mehr mithalten könnten. Dieser unlautere Wettbewerb führe zur Verlagerung von Betrieben aus Belgien nach Deutschland.“ Inzwischen sei es billiger, belgisches Vieh in Deutschland zerteilen zu lassen und anschließend nach Belgien zurückzutransportieren, als es in Belgien zerteilen zu lassen. Den Belgiern fehlt es offensichtlich nicht an Unterstützung: „Die Europäische Kommission schloss sich dem Vorwurf des Lohndumpings am Dienstag an. Die Kommission habe schon im vergangenen Jahr in ihren länderspezifischen Empfehlungen für die Mitgliedstaaten kritisiert, dass die deutschen Löhne zu wenig, nämlich geringer als die Produktivität, gestiegen seien, sagte der Sprecher von EU-Sozialkommissar Laszlo Andor in Brüssel.“ Allerdings wird in dem Artikel zutreffend darauf hingewiesen: „Dass die Kommission am Ende rechtliche Schritte wegen Lohndumpings gegen Deutschland einleitet, gilt als unwahrscheinlich. Die Einführung von Mindestlöhnen ist alleinige Zuständigkeit der Staaten.“ Womit wir wieder bei einem der großen Wahlkampfthemen für die anstehende Bundestagswahl wären. Da wird die Frage nach der Einführung eines Mindestlohns eine sicher prominente Rolle spielen. 

Immer wieder wird das Thema „Sozialleistungsmissbrauch“ in die Manege der medialen Erregungsökonomie geworfen – wie wir aus der Forschung wissen, steht die Inszenierung von Missbrauchsdebatten in einer engen Korrelation mit anstehenden oder angestrebten Kürzungen sozialer Leistungen oder dem Verhindern neuer Leistungen. Vor diesem Hintergrund lässt die folgende Meldung aus der österreichischen Tageszeitung „Die Presse“ aufhorchen: Sozialbetrug: Eine Milliarde Euro Schaden pro Jahr. Liest man dann den Untertitel, wird es interessant: „Sozialbetrug verursacht laut Studie weniger Schaden als Steuerhinterziehung und Pfusch“, wobei mit Pfusch hier nicht der angeblich im Bau befindliche Berliner Flughafen gemeint ist, sondern das, was bei uns Schwarzarbeit genannt wird. Berichtet wird hier von ersten Ergebnissen einer noch in Arbeit befindlichen Studie, die der Linzer VWL-Professor Friedrich Schneider im Auftrag der Wirtschaftskammer erstellt. Um Sozialbetrug nach dem Verständnis der Studie handelt es sich, wenn Sozialleistungen ungerechtfertigterweise bezogen werden. Etwa wenn jemand Arbeitslosengeld bezieht, obwohl er einen Job hat; sich fälschlicherweise als Alleinerzieher ausgibt; Zuschüsse fürs Wohnen kassiert, obwohl sie nicht gebraucht werden; oder trotz Arbeitsfähigkeit in Frühpension ist. Ein Seitenhieb auf die in Österreich virulente Debatte über „Ausländer“ und Sozialmissbrauch gibt es auch gleich, denn Schneider weist darauf hin, dass drei Viertel des Sozialbetrugs von Inländern begangen werden. Sein zentraler Befund lautet: „Der geschätzte Schadensbetrag von einer Milliarde Euro entspreche etwa 1,2 Prozent von dem, was der Staat insgesamt für Sozialleistungen ausgebe. Doppelt so viel Geld entgehe dem Staat durch Steuerhinterziehung, dreimal so viel durch Pfusch – wobei beides ebenfalls mehrheitlich von Österreichern aller sozialen Schichten begangen werde.“

Das Thema „Sozialleistungsmissbrauch“ wird bei uns oft und gerne im Kontext des Grundsicherungssystems, landläufig „Hartz IV“ genannt, debattiert. Aber der folgende Bericht zeigt mit dem Finger mal auf die andere Seite, auf die Jobcenter, denn das, was sich hier ein Thüringer Jobcenter  zu leisten meint, ist auch eine Art Missbrauch – von Steuergeldern: Jobcenter will wegen 15 Cent vor höchstes Gericht, so ist der Artikel von „Spiegel Online“ überschrieben:
„Ein Jobcenter in Thüringen will einen Streit um 15 Cent in höchster Instanz ausfechten. Das Center weigert sich, eine Hartz-IV-Summe aufzurunden. Dabei hat es schon zweimal in unteren Instanzen verloren.“

Was man hier lesen muss, lässt einen dann doch im ersten Augenschein den Gedanken kommen, es handelt sich hier um eine Zeitungsente, was aber leider nicht so ist: „Es geht um eine Kleinigkeit: 15 Cent, die das Jobcenter aus dem Kreis Unstrut-Hainich bei der Auszahlung an einen Hartz-IV-Empfänger aufrunden soll – und partout nicht aufrunden will. In erster Instanz hatte das Sozialgericht Nordhausen das Jobcenter zur Nachzahlung verurteilt. In der nächsten Instanz entschied auch das Landessozialgericht: Hartz-IV-Leistungen sind ab 50 Cent hinter dem Komma auf den nächsten vollen Euro aufzurunden. Eine weitere Berufung ließ das Gericht nicht zu. Dagegen hat nun das Jobcenter im Unstrut-Hainich-Kreis eine Beschwerde beim Bundessozialgericht in Kassel eingelegt.“ Offensichtlich handelt es sich bei diesem Jobcenter um hochgradig Unbelehrbare zu Lasten der Steuerzahler, denn: „Für seine Klage hatte sich das Jobcenter bereits vom Landessozialgericht den Vorwurf des Justizmissbrauchs eingefangen. Da die Rechtslage so klar sei, hatte das Gericht mit seinem Urteil im Februar entschieden, dass sich das Jobcenter mit 600 Euro an den Verfahrenskosten beteiligen müsse.“ Übrigens: „Im vergangenen Jahr hatte das Bundessozialgericht entschieden, dass Hartz-IV-Empfänger wegen Rundungsfehlern nicht vor Gericht ziehen dürfen.“ Na dann warten wir mal ab, was das BSG zu dem neuen Vorstoß der anderen Seite sagt.

Ach ja, der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr. Er wird am 1. August 2013, also in wenigen Monaten, scharf gestellt und landauf und landab gibt es eine Flut an Berichten, dass es vorne und hinten nicht klappt bzw. klappen wird mit der konkreten Erfüllung des Rechtsanspruchs. Im bevölkerungsreichsten Bundesland, Nordrhein-Westfalen, ist die Lage besonders angespannt, denn die haben bislang die rote Laterne beim Ausbau. Anschaulich zeigt dies beispielsweise der Fernsehbericht Kinderbetreuung: Das Kita-Chaos. Zu wenige Betreuungsplätze in NRW des Wirtschaftsmagazins „markt“ im WDR-Fernsehen. In der FAZ wird die Sachlage sehr prägnant in den Titel eines Beitrags gehoben: Warteschlange vor der Krippe. Und weiter: „Viele Eltern hängen in der Luft: Ab August haben sie Anspruch auf einen Krippenplatz, doch vielerorts ist keiner in Sicht. Bei Klagen winkt Schadensersatz. Für die Rückkehr in den Beruf hilft das wenig.“ Wohl wahr. Der Artikel setzt sich auch mit der Frage der Klagemöglichkeit gegen den Träger der öffentlichen Jugendhilfe auseinander und kommt mit Blick auf zwei neue Rechtsgutachten zu der Conclusio: „Machbar, aber schwierig“, so die Kurzfassung der Ergebnisse der beiden Expertisen.

Vor dem Hintergrund der real existierenden Mangellage in den westdeutschen Bundesländern ist der folgende Ansatz dann fast schon irgendwie putzig: „Kitapflicht darf kein Tabu sein“, kann man im Berliner Teil der „taz“ lesen: „Berlins Vorschulkinder haben massive Sprachdefizite. Neuköllns Bildungsstadträtin Franziska Giffey fordert nun Konsequenzen. Sie plädiert für eine Pflicht zum Kita-Besuch.“

In der öffentlichen Debatte über die soziale und pädagogische Arbeit geht es zumeist nur noch um Quantitäten, was man derzeit an der Kita-Diskussion exemplarisch studieren kann. Aber während gleichzeitig auf der großen europäischen Bühne mit den Milliarden-Beträgen jongliert wird wie derzeit rund um Zypern, stellt sich die Situation bei uns vor Ort ganz anders dar: Kürzungen, Befristungen, auslaufende „Modellprojekte“: Während in Nordrhein-Westfalen 1.400 Schulsozialarbeiter vor dem Absturz in die Arbeitslosigkeit stehen, werden Projekte wie die Kompetenzagenturen oder die 2. Chance für Schulverweigerer zum Ende des Jahres definitiv auslaufen – den an diesen Beispiel um sich greifenden „Rinderwahnsinn“ unserer föderalen Gemengelage kann man in einem Beitrag auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ nachlesen.
Da passt ein Bericht aus der „taz“, der darüber berichtet, dass am gestrigen Internationalen Tag der Sozialen Arbeit auch in Berlin Sozialarbeiter/innen gegen drastische finanzielle Kürzungen und für mehr Menschlichkeit im Job auf die Straße gegangen sind: „Wir können auch laut sein“:

„Eine Studie der Krankenkasse AOK belegt, dass vermehrt Berufstätige in Sozialberufen wie der Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenpädagogik oder der Obdachlosenhilfe unter enormem Stress und Burn-out leiden. „Soziale Arbeit verkommt zur Fast-Food-Arbeit. Es geht nur noch um Effizienz, nicht mehr um Menschen“, sagt Seithe, die selbst über 36 Jahre in der Sozialarbeit tätig war und heute beim Unabhängigen Forum arbeitet – einer Plattform, bei der sich SozialarbeiterInnen vernetzen … Besonders die Jugendarbeit würde die radikalen Kürzungen spüren. So bekämen jene ArbeitnehmerInnen oft unter 10 Euro pro Stunde. Zudem müssten die SozialarbeiterInnen regelmäßig Überstunden leisten, berichtet Seithe. Und nicht selten stünde in Jugendzentren kein betreuendes Personal vor Ort zur Verfügung.“

Sieht es denn wenigstens im Gesundheitswesen besser aus? Nicht wirklich, zumindest nicht in den „Randbereichen“ unserer immer noch sehr stark arztzentrierten Struktur. Nehmen wir beispielsweise die Psychotherapeuten: Auf der Suche nach Lösungen, betitelt der „Tagesspiegel“ aus Berlin einen Beitrag von Jana Gioia Baurmann: „Jedes Jahr beenden 2.000 Psychologen die Ausbildung zum Psychotherapeuten und wollen Praxen eröffnen. Doch das ist schwer.“ Derzeit befinden sich schätzungsweise 13.000 Psychologen in Deutschland in der psychotherapeutischen Ausbildung, Tendenz steigend. Jährlich legen 1.800 ihre Prüfung ab. Wer Psychotherapeut werden möchte, muss nach dem Studium der Psychologie eine Ausbildung machen, drei Jahre Vollzeit oder fünf Jahre Teilzeit. Will man im klinischen Bereich arbeiten, dann gibt es keine Alternative zu diesem Weg. Es gibt verschiedene Institute, die diese Ausbildung anbieten, die meisten verlangen rund 20.000 Euro. „In Deutschland gibt es derzeit rund 21.600 niedergelassene Therapeuten, die pro Quartal rund eine Million Patienten behandeln. Die Nachfrage ist jedoch wesentlich höher. In Berlin kommen 62 Psychotherapeuten auf 100.000 Einwohner, das Verhältnis ist – im Vergleich – sogar gut. Im Havelland etwa gibt es nur neun Therapeuten für die gleiche Anzahl an Einwohnern.“ Man darf an dieser Stelle durchaus erwähnen, dass nicht wenige Experten sagen würden, dass Berlin mit Psychotherapeuten „überversorgt“ ist, während in vielen anderen Regionen eine eklatante Unterversorgung beobachtbar ist. Während über die Zahl der zugelassenen Kassensitze gestritten wird, müssen psychisch Kranke, die eine Therapie machen wollen, warten – im Durchschnitt drei Monate auf ein erstes Gespräch. Zu viele Patienten – und zu viele Psychotherapeuten ohne Kassensitz. Eine dieser typisch verzwickten Situationen in unserem Gesundheitssystem.

Letztendlich geht es doch immer wieder um die Ökonomie. Die viele Menschen in den sozialen, pädagogischen und medizinischen Handlungsfeldern nur noch als Bedrohung wahrnehmen. So auch Bernd Hontschik in seinem Beitrag Die verlorene Kunst der Chirurgie, der von der „Frankfurter Rundschau“ veröffentlicht wurde: „Explodierende Gesundheitskosten? Keineswegs. Doch die Orientierung an Bilanzen führt zur Zerstörung einer menschlich orientierten Medizin durch ökonomische Habgier.“ Es handelt sich bei dem Text um die gekürzte Fassung des Eröffnungsvortrages Anfang März auf dem Chirurgentag 2013 in Nürnberg.

Nun könnte man mit einem gewissen zynischen Unterton einwerfen: Die haben wenigstens Arbeit, die sich alle über die Arbeit beklagen. Aber richtig schlimm ist es für die, die eine haben wollen, aber keine bekommen. Um die zu bekommen, gibt es doch die Arbeitsagenturen und die Jobcenter, mag man einwenden. Zuweilen, einige behaupten sogar grundsätzlich soll es aber zielführender sein, Theater zu spielen als zum Jobenter zu gehen. Dies zumindest behauptet der Artikel Kohle kommt von Kunst. Es lohnt sich demnach, Theater zu spielen: „Wer auf der Bühne besteht, der findet besser einen Job. Die Wittener Projektagentur von Sandra Schürmann beweist das seit sieben Jahren“.

Von der beruflichen Bildung zu Bildung allgemein unter besonderer Berücksichtigung der Inklusion ist es nicht mehr weit und ich kann hier anschließen an meinen letzten Beitrag vor diesem Post: „Wir brauchen eine andere Art des Unterrichtens“, meint der Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, Jörg Dräger. Eigentlich sollten behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam lernen – doch das gelingt in Deutschland nur mäßig, zeigt eine neue Studie, die von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegeben wurde. Im Interview sagt Jörg Dräger was sich nach seiner Meinung ändern muss und warum sein Sohn eine Inklusionsklasse besucht.